C. Gantet u.a: Le Saint-Empire. 1500–1800

Cover
Titel
Le Saint-Empire. 1500–1800


Autor(en)
Gantet, Claire; Lebeau, Christine
Erschienen
Paris 2018: Armand Colin
Anzahl Seiten
270 S.
von
Marco Jorio

Es war eine glückliche Idee, dem französischsprachigen Publikum eine neue Geschichte der Heiligen Römischen Reichs vorzulegen. Die Beschäftigung mit dem Alten Reich lag lange Zeit nicht im Trend und so gibt es – mit Ausnahme des kleinen, 1976, 1986 und 1993 dreimal aufgelegten Que-sais-je-Bändchen «Le Saint-Empire» von Jean-François Noël – kein neueres Übersichtswerk. Seit einigen Jahren ist das Interesse am Sacrum Imperium Romanum in der frankophonen Welt wieder erwacht – auch in der welschen Schweiz, wie das 2002 an der Universität Neuenburg durchgeführte Kolloquium «La Suisse occidentale et l’Empire» belegt, dessen Publikation in der Bibliografie leider fehlt. 1

Beide Autorinnen zeichnen sich durch profunde und breite Kenntnisse in der Reichsgeschichte aus: die in Paris lehrende Christine Lebeau vor allem zu Themen der habsburgischen Monarchie und ihrer Länder, die seit 2015 im schweizerischen Freiburg als Ordinaria wirkenden Claire Gantet zu Themen wie den Reichsinstitutionen, zum Dreissigjährigen Krieg und zu den deutsch-französischen Beziehungen. Das Werk spannt einen breiten Bogen über das Reich in der Neuzeit. Es beginnt mit der Reichsreform und der Verdichtung der Herrschaft durch den Wormser Reichstag 1495 und endet (nicht wie üblich) mit der Auflösung des Reichs 1806, sondern (durchaus begründet) mit dem Wiener Kongress 1815.

Das Buch betont wiederholt, dass sich das Reich in mannigfacher Weise von den anderen europäischen Reichen unterscheidet: Es ist kein Territorialstaat mit klaren Aussengrenzen, es hat keine Hauptstadt, keine starke Exekutive, keine einheitliche Armee, dafür war die Macht geteilt zwischen dem Kaiser als Reichsoberhaupt und den Reichsgliedern, es war anfänglich übernational und schrumpfte erst im Verlauf der Zeit zum Deutschen Reich, wie es in der Schlussphase genannt wurde. Die Reichsgeschichte war nie einfach deutsche Geschichte, wie die Reichszugehörigkeit von Böhmen, Ungarn oder das schöne Kapitel zu Reichsitalien belegen. Das Reich wurde schon während seines Bestehens vor allem von den Aufklärern wegen seiner «unvernünftigen» Struktur kritisiert. Berühmt ist der böse Spruch von Voltaire, das Heilige Römische Reich sei weder heilig, noch römisch, noch ein Reich. Und der Philosoph und Völkerrechtler Samuel Pufendorf nannte es schon im 17. Jahrhundert ein «Monstrum». Im Zeitalter des (deutschen) Nationalismus und Militarismus des 19. und 20. Jahrhunderts hatte es wegen seiner politischen und militärischen Schwäche einen schlechten Ruf. Erst seit den Erfahrungen des Totalitarismus und den Schrecken des Zweiten Weltkriegs würdigte die Geschichtswis-senschaft dieses auf Recht, Tradition und föderaler Struktur basierende Reichsgebilde positiver. In diese Strömung der Neubeurteilung gliedert sich das angezeigte Werk ein, das Handbuch und Arbeitsmittel sein will.

Einer der stärksten Punkte ist zweifellos die fundierte Darstellung der Reichsstruktur und der Reichsinstitutionen. Die Autorinnen betonen den Unterschied des Wahlkaisertums zu den Erbmonarchien Europas, den sakralen feudal-mittelalterlichen Charakter des Reichs und stellen die Träger des Reichs vor: die Kaiser (ab 1438 fast immer Habsburger), die Kurfürsten («Säulen des Reichs»), die Reichsstände, die Geistlichen Staaten, die Reichsstädte und selbst die Reichsritterschaft. Sie beschreiben das Reich als Korporation von 300 unterschiedlichen Herrschaften («millefeuille Impérial»), das gleichzeitig ein «espace de communication et des savoirs» gewesen sei. Lückenlos vorgestellt werden die wichtigsten Reichsinstitutionen: Reichstag in Regensburg, Reichskammergericht in Wetzlar, der Reichshofrat in Wien und die zehn Reichskreise. Originell ist das Kapitel «L’Empire des savoirs», in dem unter «Intellektuelle Geographie» die Reichspost, das Zeitungsund Zeitschriftenwesen, das Druck- und Verlagswesen und die 36 Universität als Zentren der Aufklärung und die Reichswissenschaften, so das Reichsrecht, die Kameralwissenschaften, die Statistik und die Kartographie vorgestellt werden.

Zwischen den struktur- und institutionsgeschichtlichen Kapiteln und Unterkapiteln wird abrissartig die Ereignisgeschichte abgehandelt: die Reichsreform 1495 bis 1521, die Reformation, der Dreissigjährige Krieg, das neue reichsinterne Gleichgewicht im Westfälischen Frieden, der Aufstieg Preussens und der habsburgisch-preussische Dualismus und schliesslich der Untergang des Reichs. Die dichte Darstellung der Ereignisse mit ihren verwirrlichen Allianzen, Kriegen, Friedensschlüssen und dynastischen Heiraten macht die Lektüre nicht einfach. Da wäre weniger vielleicht mehr gewesen.

Wer über das Ausscheiden der Eidgenossenschaft aus dem Reich etwas erfahren wird, findet nur wenig: so etwas über den Frieden von Basel von 1499 und den Westfälische Frieden. Über die Bande der Schweiz zum Reich nach 1648, dem sog. nexus imperii, wird einzig ausgesagt, dass die kleinen katholischen Kantone bis ins 18. Jahrhundert noch Reichssymbole verwendeten, was im Übrigen so nicht zutrifft, da auch reformierte Orte wie Genf (bis 1785!) nicht auf den Reichsadler verzichteten. Letzteres war freilich mehr einer konservativen Ikonographie als einem Bekenntnis zum Reich geschuldet.2 Wer sich über die Schweiz und das Reich informieren will, benützt daher mit Vorteil das Historische Lexikon der Schweiz, wo man über den Hauptartikel «Heiliges Römisches Reich» zu einer Vielzahl von Reichsartikeln samt einschlägiger Literatur geleitet wird.

Das Buch wird durch einen nützlichen, aber teils mangelhaften Annex, abgeschlossen, der aus Karten, einem Glossar, einer Chronologie, einer Liste der Kaiser und weltlichen Kurfürsten (die geistlichen Kurfürsten fehlen), einer imposanten internationalen Bibliografie (ausschliesslich mit Beiträgen der letzten 30 Jahre und fast keinen Schweizer Titeln) und einem Personenindex besteht.

Gesamthaft handelt es sich um ein wichtiges Buch, das der französischsprachigen Erforschung der Reichsgeschichte neue Impulse gibt und dem historisch interessierten Publikum nützlich sein wird. Ihm ist eine weite Verbreitung (auch in der Suisse romande) und vielleicht sogar eine (erweiterte) Neuauflage zu wünschen.

Notes:
1 Jean-Daniel Morerod u. a. (Hg.), La Suisse occidentale et l’Empire, Boudry 2004.
2 Brigitte Meles, Das Entschwinden des Reichsadlers, in: Marco Jorio (Hg.), 1648. Die Schweiz und Europa. Aussenpolitik zur Zeit des Westfälischen Friedens, Zürich 1999, S. 147–161.

Zitierweise:
Jorio, Marco: Rezension zu: Gantet, Claire; Lebeau, Christine: Le Saint-Empire. 1500–1800, Paris 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (3), 2022, S. 457-458. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit